Es ist zwei Abende vor dem diesjährigen Passahfest. Halina Birenbaum ist zu Gast in der Buchhandlung im S-Bahnhof Mexikoplatz. Als Überlebende des Inferno der Jahre 1939 bis 1945 erzählt sie aus ihrer Leidensgeschichte als ihrer Lebensgeschichte. Mehr als 6o Menschen, darunter viele junge Menschen, hören ihrem Erzählen aufmerksam und gespannt zu: Von ihrer Jugend in Warschau im Kreis ihrer Familie und ihrer Geschwister malt sie warme Bilder, bis dann ab September 1939 die deutschen Flieger ihre Bombenlasten über Warschau abwerfen. Als gerade Zehnjährige erlebt sie brennende Häuser, Menschen, die vor Flammen und Bomben fliehen Bald darauf muss sie am eigenen Leibe die Ausführung der wahnsinnigen Bestimmungen gegen die jüdische Bevölkerung erleben und erleiden. Für sie bricht eine Welt zusammen, und doch fragt sie immer wieder nach dem Leben. Bewegend schildert sie die Zeiten im Ghetto, das ständige Verstecken vor den Durchsuchungen mit folgenden Deportationen. Lebendig und authentisch gibt sie Zeugnis von jenen Monaten. Erschreckend die Schilderung der letzten Erinnerung an ihren Vater: Ein Mann von großer Statur, gebückt unter den massiven Schlägen der polnischen bzw. litauischen SS verschwindet im Nimmerwiedersehen. Die Deportation aus dem Ghetto nach Auschwitz.. Die Mutter flicht ihr kurz vorher die Haare zu einer Krone, damit sie älter aussieht und sagt ihr: "Halina, Du bist 17 Jahre!". Denn Kinder wurde wie alte Menschen gleich "ins Gas" geschickt. - Die Mutter gerät in einen Transport nach Treblinka. - An diesem Abend erleben die Zuhörer eine vom Leben überzeugte Frau, die gegen die "Wand des Todes" in den Lagern angelebt hat. Schrecklich die Schilderung des Transports in den Viehwaggons, die Gefahr ersticken zu können, der Aufstand gegen den Tod, Luft schöpfen an einem kleinen Fensterspalt. Die Prozedur des Aussteigens in Auschwitz, sie klammert sich an die Hand ihrer Schwägerin Hella. Baracke 27 wird für lange Zeit der Leidens- und Lebensort von Halina und Hella sein. Mit welcher Innigkeit sie von dem "Stückel Brot" erzählt, das sie für die schwächer Werdende aufspart. Gleichzeitig die Grausamkeiten des KZ-Lebens, wo sie die schlimmsten und die schönsten Seiten des Menschen kennen gelernt hat. Sie erzählt von jener Nacht in der Gaskammer - sie und die vielen Anderen überleben diese Nacht - es hatte kein Gas gegeben. Die Aufrichtigkeit und Standhaftigkeit gegen den Tod, der "ein Meister aus Deutschland" (Celan) ist, ist im Zuhören zu bewundern! Fast zwei Stunden erzählt sie, nimmt die Zuhörer bei der Hand und führt sie mit sicherer Hand durch die dunkelsten Bereiche menschlicher Existenz. Sie lebt aus der Überzeugung, dass die Hoffnung zuletzt stirbt! Schließlich der Todesmarsch von Auschwitz nach Ravensbrück, kurz vorher noch fast tödliche Schusswunden am Arm und Oberkörper. Medizinische Versorgung in der Männerbaracke. Trotz ihrer körperlichen Schwäche erreicht sie mit ihrer kleinen zähen Kraft die nächsten Stationen bis hin zur endgültigen Befreiung Anfang Mai 1945! Halina Birenbaum hatte sich während der KZ-Haft fest vorgenommen, wenn sie überlebt: Sie wird erzählen, erzählen. Man kann ihre beiden autobiographischen Bände lesen - bei Fischer als Taschenbücher erschienen, aber intensiver ist es ihr zuhören zu dürfen, - nebenbei schiebt sie den Ärmel ihres Pullovers hoch und lässt einen Blick auf ihre am linken Unterarm eingebrannte KZ Nummer gewähren. Nach fast zweistündigem Erzählen zunächst Schweigen, dann dankbarer Beifall für diese Offenheit ohne Hass, für dieses Sagen ohne Zorn. Dankbar greift sie nach der Hand ihrer 16jährigen Freundin, Johanna Gierke von der Rudolf-Steiner-Schule, mit der sie seit einigen Jahren Briefe wechselt. Für ihre Zukunft wünscht sie sich die Erweiterung dieses Bildes der Versöhnung: Ein deutscher junger Mensch an ihrer einen Seite und ein junger Palästinenser an ihrer anderen Seite. Mit einem überzeugten Schalom verabschiedet sie sich. Claus Marcus |
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